Leseprobe – Friede, Freude, Pfefferkuchen

„Wollen wir Weihnachten eigentlich zusammen feiern?“

Noëlle, die sich gerade noch in der Betrachtung der dezembergrauen Landschaft verloren hatte, holte vor Schreck viel zu viel Luft. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht genug Sauerstoff in die Lunge pumpen zu können. Sie japste. Hustete. Erik hatte „Weihnachten“ und „zusammen feiern“ in einem Satz verwendet. Oh Gott. In diesem Augenblick spürte sie, dass ihre Hände eiskalt wurden.

Sie waren seit etwa einer Stunde unterwegs. Wie nicht anders zu erwarten, hatten sie am Samstagvormittag eine halbe Ewigkeit aus der Frankfurter Innenstadt heraus gebraucht, und bis nach Mainz war der Verkehr immer wieder so dicht geworden, dass sich Noëlle ein paar Mal sehr fest hatte auf die Zunge beißen müssen, um nichts zu sagen. Samstag war der Reisetag schlechthin, vor allem am ersten Adventswochenende. Warum hätten sie nicht erst morgen zu Eriks Eltern aufbrechen können? Dann hätten sie sich auch die Übernachtung gespart. Reichte ja auch, wenn man ein Mittagessen miteinander verbrachte, wenn man sich vorher noch nie gesehen hatte. Oder? Musste ja nicht gleich ein ganzes Wochenende werden, das Erik und sie in der Hunsrücker Pampa bei seiner Mischpoke blieben, die Noëlle noch nicht kannte.

Blöderweise war ihr Anreisetag-Argument in die ganz falsche Richtung gegangen, als sie es Erik nach einigen Tagen Überlegen vorgelegt hatte. Der hatte dann nämlich vorgeschlagen, am Freitag schon loszufahren, und das war so ziemlich das Gegenteil von dem, was Noëlle wollte.

„Du sagst ja gar nichts“, bemerkte Erik ihr Schweigen und warf ihr einen Blick vom Fahrersitz aus zu. Gerade setzte er den Blinker, um die A60 in Höhe von Bingen zu verlassen.

„Ich … also …“

Sie stockte. Was sollte sie ihrem Freund sagen? Dass sie Weihnachten hasste? Nicht nur nicht mochte, sondern aus tiefster Seele und mit jeder Faser ihres Körpers verabscheute? Dass sie eine Gänsehaut bekam, wenn die ersten Töne von „Last Christmas“ gespielt wurden, und Brechreiz verspürte, wenn Ende August die ersten Schokoladenweihnachtsmänner und Lebkuchen im Supermarktregal standen? Dass sie sämtliche Kuverts, die zwischen dem ersten und 24. Dezember in ihrem Briefkasten landeten und ganz eindeutig keinen Einkommenssteuerbescheid, sondern einen pappkartonartigen gefalteten Gegenstand im Inneren enthielten, ungeöffnet in den Mülleimer beförderte? Dass sie bei jeder Weihnachtsfeier, die ihre Firma in den letzten fünf Jahren veranstaltet hatte, immer auf wundersame Weise krank gewesen war? Oder in Urlaub, meist einer sehr ausgedehnten Fernreise in ein Land, in dem man Weihnachten entweder gar nicht feierte oder es in so geringem Ausmaß tat, dass Noëlle den Festivitäten mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht aus dem Weg gehen konnte? Indien, zum Beispiel, letztes Jahr. Drei Wochen Sonne satt. Nicht mal der Müll hatte sie gestört, solange sie dem Zipfelmützenwahnsinn entkam.

Sie und Erik waren nun schon ein paar Monate zusammen – aber nicht lange genug, als dass sie den Wunsch oder das dringende Bedürfnis verspürt hätte, ihm von ihrem weihnachtlichen Trauma zu berichten. Natürlich hatte er gefragt, wann er ihre Eltern einmal kennenlerne, aber Noëlle hatte sich mit der großen Entfernung rausgeredet, immerhin war Hildesheim ein paar Stunden Autofahrt von Frankfurt weg, und Erik konnte wegen seines Jobs selten mehr als zwei Tage am Stück freinehmen – vor allem nicht am Wochenende.

Selbstverständlich war Noëlle immer bewusst gewesen, dass die Frage nach Weihnachten irgendwann kommen würde. Nur hatte sie sich eben gewünscht, dass sie eher später als früher gestellt wurde. Und am allermeisten hatte sie gehofft, dass Erik sie mit dem späten Geständnis überraschte, als Heidenkind kein Weihnachten zu feiern, den Konsum aus Überzeugung zu boykottieren oder von ihr aus eine Zimtallergie zu haben. Ihr wäre alles recht gewesen.

Und jetzt das.

„Puh, Weihnachten“, setzte sie erneut an, dann holte sie tief Luft und zwang sich, in Eriks Richtung zu schauen, der sich gerade von der rechten Beschleunigungsspur in den nicht mehr ganz so dichten Verkehr auf der A61 einfädelte. „Lass uns da in ein paar Tagen nochmal drüber reden“, schlug Noëlle vor. „In Ruhe und mit ein bisschen Zeit.“

Erik sah sie wieder an und grinste. Es war genau dieses Lächeln, dieses spitzbübische Jungsgrinsen, das ihr bei der ersten Begegnung schon weiche Knie beschert hatte und auch heute noch dafür sorgte, dass sie quasi sofort dahinschmolz, wenn er es aufsetzte. Was eigentlich ziemlich blöd war. Denn Noëlle konnte sowieso schon so schlecht Nein sagen, und mithilfe von Eriks entwaffnendem Lausbubencharme löste sich ihr Widerstand in der Regel binnen Sekunden in Luft auf.

Nur bei diesem einen speziellen Thema nicht. Bei Weihnachten, das wusste Noëlle mit einer Selbstsicherheit, um die sie sonst alle anderen um sich herum beneidete, würde sie hartbleiben. Man nannte das wohl Selbsterhaltungstrieb.

„Wir haben doch gerade Ruhe und noch eine gute halbe Stunde, bis wir bei meinen Eltern ankommen“, legte Erik nach. „Ist ja auch nicht mehr lange bis Weihnachten. Wir haben Anfang Dezember. Im Radio spielen sie schon Weihnachtslieder.“

Wie aufs Stichwort fingen in diesem Moment die Glocken aus Mariah Careys Horrorhit „All I want for Christmas“ an, aus den Lautsprecherboxen zu klingeln, und Erik drehte gut gelaunt am kleinen schwarzen Knöpfchen des Radios, um die Musik lauterzustellen, und wiegte den Kopf im Takt hin und her.

Noëlle spürte etwas Saures aus ihrem Magen in ihre Kehle hochsteigen. Oh, wie sie Weihnachten hasste! Dieses ganze aufgesetzte und inszenierte „Wir haben uns alle lieb“-Gehabe, das konnte sie so gut leiden wie einen Nagel im Fuß. Wobei sie der Vergleich auf sehr unangenehme Weise daran erinnerte, wer da vor etwa zweitausend Jahren geboren worden war, um fortan die Welt mit seiner beknackten Geburtstagsparty zu quälen. Empfängsnisverhütung, davon schon mal was gehört? Nur mit Mühe konnte Noëlle ein Stöhnen unterdrücken, als Mariah jaulend wie eine Seerobbe, die ihre Mutter verloren hatte, zu singen anfing, begleitet von einem Geräusch, das Noëlle an eine winterliche Schlittenfahrt erinnerte – und was ihr deswegen höchst zuwider war.

„Mit ist Weihnachten jetzt nicht sooo wichtig“, setzte Noëlle zur Untertreibung des Jahrtausends an, wobei sie Schwierigkeiten hatte, das Gejaule zu übertönen.