Leseprobe – Mit Abstand verliebt

  1. Februar 2020

+++ Die Weltgesundheitsorganisation sieht angesichts der sich ausbreitenden Corona-Infektion noch keine „internationale Notlage“ +++ Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefahr für die Bevölkerung in Deutschland aktuell weiterhin als gering ein +++ Jella gibt ihre vierte Stunde Acro-Yoga, bei der jeweils zwei Teilnehmer in akrobatischen Yoga-Positionen Vertrauen und Balance üben – drei der Paarungen haben auch außeryogisch zueinander gefunden +++

 

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Wenn Jella gewusst hätte, dass sie an diesem Abend für eine sehr lange Zeit die letzte Party feiern würde, hätte sie sich entschieden mehr ins Zeug gelegt.

Von den Entwicklungen der kommenden Monate ahnte sie allerdings nichts, als sie an diesem Samstagabend gegen einundzwanzig Uhr mit ihrer sehr schwangeren, sehr müden Freundin Gitta in einer dieser pastellfarbenen Lounge-Bars in Hamburg-Eimsbüttel über einer Rhabarberschorle einzuschlafen drohte. Mick Hucknall von Simply Red säuselte im Hintergrund „Holding Back The Years“, und um sie herum saßen ausschließlich Frauen in Zweier- oder Dreiergruppen um Tische, auf denen Cocktails in allen möglichen Farben standen. Jella wollte nur noch ins Bett. Aber sie hatte David versprochen, zu seiner Party zu kommen. Als David vor Jahren in einem Yoga-Kurs aufgetaucht war, den Jella geleitet hatte, war sie gleich hin und weg gewesen und hatte sich schlagartig in den großen schönen Mann verliebt – allerdings nur platonisch. Seitdem hatten sie unzählige Partynächte zusammen verbracht. David an seinem vierzigsten Geburtstag zu versetzen, war keine Option. Das würde er ihr nicht verzeihen. Obwohl ihr in diesem Moment sehr danach zumute war, auf direktem Wege nach Hause zu gehen. Die Partys bei David wurden zwar zu später Stunde oft ziemlich wild, aber die rasend attraktiven, männlichen Gäste waren in der Regel alle schwul – oder hatten Jura studiert und passten allein deswegen nicht in Jellas Beuteschema.

Ihr Handy piepte. Es war eine Nachricht von Fee: Wann kommst du?!

„Und du bist sicher, dass du nicht mehr mitwillst? Wird bestimmt lustig“, versuchte Jella ein weiteres Mal, Gitta zu überzeugen – genauso wie sich selbst.

Aber die winkte ab. „Guck‘ mal, wie ich aussehe! Wie eine Wassermelone im Turnbeutel.“

Jella sah erst Gitta an und dann an sich selbst herunter. „Ich hab doch auch nichts Besonderes an.“

Obwohl Jella bewusst war, dass ein Single, der einigermaßen bei Verstand war, nicht mit ausgeleierter Skinny-Jeans und Reißverschluss-Sweater auf einer Party erscheinen konnte, war sie nach ihrer letzten Stunde im Studio nicht mehr nach Hause gegangen, um ihr Tages-Outfit gegen etwas Partytaugliches zu tauschen.

„Du siehst sogar in den Klamotten toll aus“, sagte Gitta mit dieser fast weinerlichen Stimme, die Schwangere manchmal hatten, wenn sie bis in die Grundfesten ihrer Seele neidisch waren und glaubten, die besten Jahre wären für immer und ewig vorbei, während ihre kinderlosen Freundinnen wie von hundsgemeiner Zauberhand täglich schlanker und schöner wurden. Bei Jella schien das im Augenblick ausnahmsweise tatsächlich der Fall zu sein. Was daran lag, dass sie gerade von einer Woche Surfen an der Atlantikküste kam und Ende Februar im Gegensatz zu allen anderen in Hamburg zumindest ein wenig Farbe im Gesicht hatte. Selbst ihre dunkelblonden Haare hatten helle Strähnen vom Salzwasser und der Sonne.

Alle – inklusive Gitta – glaubten, dass Jella höchstwahrscheinlich eine reiche Tante hatte, die sie finanzierte, weil sie alle paar Wochen für eine „Auszeit“ die Stadt verließ. Das entsprach aber leider nicht den Tatsachen. Jella musste jeden Euro sparen, um sich diese Freiheit zu ermöglichen, und lebte deshalb auch auf nur zwölf Quadratmetern in einer Zweck-WG in Wilhelmsburg. Ihr „Hauptberuf“ als Yoga-Lehrerin brachte nicht besonders viel ein, deshalb stand sie am Wochenende auf dem Hamburger Berg hinter der Bar und servierte Astra.

Sie erinnerte sich noch genau an die Worte ihrer Eltern vor über zehn Jahren, als sie ihnen am Tag nach ihrer Abschlussprüfung verkündet hatte, den Job als Krankenschwester direkt an den Nagel zu hängen und erst einmal auf Reisen zu gehen. Die beiden waren natürlich entsetzt und taten es als Hirngespinst ab. Sie appellierten an Jellas gesunden Menschenverstand, faselten etwas vom Einzahlen in die Rentenkasse und Rücklagen für später. Doch Jella ließ sich nicht beirren, kündigte das damalige Zimmer in der WG in Hannover, kratzte ihre Ersparnisse zusammen und zog hinaus in die Welt. Ein halbes Jahr hütete sie Schafe in Neuseeland, danach jobbte sie in einem Surfhostel auf Bali, schließlich verschlug es sie über eine Backpacker-Bekannte nach Indien, wo sie in einem Ashram die Ausbildung zur Yoga-Lehrerin machte.

Als sie zurückkam und ihren Eltern mitteilte, dass sie nicht beabsichtige, in naher Zukunft wieder Urinbeutel und Nierenschalen zu entleeren, sondern als freiberufliche Yoga-Lehrerin in Hamburg Fuß fassen wolle, waren diese, milde gesagt, ratlos. Was zum einen daran lag, dass sie sich unter Yoga-Lehrerin als Beruf herzlich wenig vorstellen konnten, zum anderen daran, dass Jella ihnen nie von Erika Sander erzählt hatte. Am Ende hatten sie eingelenkt, auch weil sie wussten, dass man Jella nichts ausreden konnte. Seitdem brachte sie Menschen bei, wie man den Sonnengruß und den Herabschauenden Hund ausführte, ohne sich dabei einen Bandscheibenvorfall zuzuziehen.

Wenn sie nicht auf der Matte vorturnte, war sie unterwegs: Surf-Yoga-Camp auf Formentera, Erleuchtungs-Seminar in Costa Rica, Meditationstraining in Chiang Mai, dazwischen mehrere Monate in Hamburg, wo sie ihr Wissen an den Mann, na ja, häufiger an die Frau brachte und möglichst viel arbeitete, um die Reisekasse wieder aufzufüllen. Manchmal kam es auch vor, dass sie zum Arbeitsamt musste, um ihr Einkommen aufzustocken – aber das erzählte sie ihren Eltern natürlich nicht.

Für die waren Jellas Beschäftigung als Yoga-Lehrerin und der Job hinter der Theke selbstredend keine richtige Arbeit. Außerdem fragten sie sich, wann ihre Tochter endlich damit anfing, sich ihrem Alter entsprechend zu verhalten – was auch immer das in ihren Augen zu bedeuten hatte.

Vermutlich hätte Jella für ihre Eltern einfach ein bisschen mehr wie der Rest ihres Hamburger Freundeskreises sein sollen, der es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatte, ein Kind nach dem anderen zu produzieren. Parallel zu jedem neuen Nachkommen wurden weitere überteuerte Möbelstücke sowie Hunderte von Lämpchen, Schlüsselbrettchen und Duftkerzchen für die immer kostspieligere Wohnung im noch schickeren Stadtteil angeschafft, um dort neu erkannte Lebensmittelintoleranzen mithilfe kulinarischer Kompetenzen wettzumachen. Jella hatte die meiste Zeit Mühe, sich ihre Verwunderung über diese Art von Lebensentwurf nicht anmerken zu lassen. Dabei war Zurückhaltung angesagt, denn zumindest der weibliche Teil dieser Menschen stellte ihre Kern-Zielgruppe dar. Sie buchten Yoga-Kurse in allen möglichen Varianten: von Luna-Yoga, das den Kinderwunsch unterstützte, bis Bikram bei vierzig Grad, um nach der Entbindung die Fettverbrennung zu befeuern (sechshundertfünfzig Kalorien pro Stunde!).
In sechs Wochen ging Jellas nächster Flug nach Sri Lanka. Drei Wochen Ayurveda-Yoga-Surf-Farm und zwei Wochen Rundtour über die Insel. Jellas persönliche Glücksformel. Währenddessen würde sie eine weitere Reportage für Take Off & Tadasana schreiben, so wie auf ihren letzten beiden Trips. Jessy, die Chefredakteurin des Surf-und-Yoga-Magazins, hatte irgendwann Jellas Reise-Blog entdeckt, der mittlerweile etwas mehr als dreitausend Besucher im Monat hatte, und beauftragte sie seitdem immer mal wieder mit einem Text. Reisen und Bloggen waren nun aber nicht gerade Themen, über die sie mit Freundinnen wie Gitta reden konnte.

Jellas Erleichterung war grenzenlos, als Gitta endlich aufbrechen wollte. Auch wenn sie diese Frau wirklich liebte, es gab tatsächlich kaum mehr etwas, für das sie sich gerade beide interessierten. Letztlich blieb als einziges Thema nur noch Schwangerschafts-Yoga. Ein Abend mit Gitta in den letzten Wochen vor der Entbindung war für Jella maximal zwei Stunden auszuhalten, spätestens dann musste sie gehen oder einen Schnaps bestellen.

„Denk dran, Gitta: Das ist nur eine Phase!“, hörte sich Jella zum Abschied sagen, und ihr fiel auf, dass sie sich nicht besonders überzeugend anhörte. Ihre Freundin war zum Glück zu müde, um das zu bemerken, und hievte sich mit einem „Jaja“ auf ihr Hollandrad. Jella winkte ihr hinterher und lief dann in die entgegengesetzte Richtung. Davids Party fand nur ein paar Straße weiter statt. Dort würde sie den jetzt dringend benötigten Alkohol bekommen.