Leseprobe – Friede, Freude, Pfefferkuchen

Friede, Freude, Pfefferkuchen
Luisa Binder

 

„Wollen wir Weihnachten eigentlich zusammen feiern?“

Noëlle, die sich gerade noch in der Betrachtung der dezembergrauen Landschaft verloren hatte, holte vor Schreck viel zu viel Luft. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht genug Sauerstoff in die Lunge pumpen zu können. Sie japste. Hustete. Erik hatte „Weihnachten“ und „zusammen feiern“ in einem Satz verwendet. Oh Gott. In diesem Augenblick spürte sie, dass ihre Hände eiskalt wurden.

Sie waren seit etwa einer Stunde unterwegs. Wie nicht anders zu erwarten, hatten sie am Samstagvormittag eine halbe Ewigkeit aus der Frankfurter Innenstadt heraus gebraucht, und bis nach Mainz war der Verkehr immer wieder so dicht geworden, dass sich Noëlle ein paar Mal sehr fest hatte auf die Zunge beißen müssen, um nichts zu sagen. Samstag war der Reisetag schlechthin, vor allem am ersten Adventswochenende. Warum hätten sie nicht erst morgen zu Eriks Eltern aufbrechen können? Dann hätten sie sich auch die Übernachtung gespart. Reichte ja auch, wenn man ein Mittagessen miteinander verbrachte, wenn man sich vorher noch nie gesehen hatte. Oder? Musste ja nicht gleich ein ganzes Wochenende werden, das Erik und sie in der Hunsrücker Pampa bei seiner Mischpoke blieben, die Noëlle noch nicht kannte.

Blöderweise war ihr Anreisetag-Argument in die ganz falsche Richtung gegangen, als sie es Erik nach einigen Tagen Überlegen vorgelegt hatte. Der hatte dann nämlich vorgeschlagen, am Freitag schon loszufahren, und das war so ziemlich das Gegenteil von dem, was Noëlle wollte.

„Du sagst ja gar nichts“, bemerkte Erik ihr Schweigen und warf ihr einen Blick vom Fahrersitz aus zu. Gerade setzte er den Blinker, um die A60 in Höhe von Bingen zu verlassen.

„Ich … also …“

Sie stockte. Was sollte sie ihrem Freund sagen? Dass sie Weihnachten hasste? Nicht nur nicht mochte, sondern aus tiefster Seele und mit jeder Faser ihres Körpers verabscheute? Dass sie eine Gänsehaut bekam, wenn die ersten Töne von „Last Christmas“ gespielt wurden, und Brechreiz verspürte, wenn Ende August die ersten Schokoladenweihnachtsmänner und Lebkuchen im Supermarktregal standen? Dass sie sämtliche Kuverts, die zwischen dem ersten und 24. Dezember in ihrem Briefkasten landeten und ganz eindeutig keinen Einkommenssteuerbescheid, sondern einen pappkartonartigen gefalteten Gegenstand im Inneren enthielten, ungeöffnet in den Mülleimer beförderte? Dass sie bei jeder Weihnachtsfeier, die ihre Firma in den letzten fünf Jahren veranstaltet hatte, immer auf wundersame Weise krank gewesen war? Oder in Urlaub, meist einer sehr ausgedehnten Fernreise in ein Land, in dem man Weihnachten entweder gar nicht feierte oder es in so geringem Ausmaß tat, dass Noëlle den Festivitäten mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht aus dem Weg gehen konnte? Indien, zum Beispiel, letztes Jahr. Drei Wochen Sonne satt. Nicht mal der Müll hatte sie gestört, solange sie dem Zipfelmützenwahnsinn entkam.

Sie und Erik waren nun schon ein paar Monate zusammen – aber nicht lange genug, als dass sie den Wunsch oder das dringende Bedürfnis verspürt hätte, ihm von ihrem weihnachtlichen Trauma zu berichten. Natürlich hatte er gefragt, wann er ihre Eltern einmal kennenlerne, aber Noëlle hatte sich mit der großen Entfernung rausgeredet, immerhin war Hildesheim ein paar Stunden Autofahrt von Frankfurt weg, und Erik konnte wegen seines Jobs selten mehr als zwei Tage am Stück freinehmen – vor allem nicht am Wochenende.

Selbstverständlich war Noëlle immer bewusst gewesen, dass die Frage nach Weihnachten irgendwann kommen würde. Nur hatte sie sich eben gewünscht, dass sie eher später als früher gestellt wurde. Und am allermeisten hatte sie gehofft, dass Erik sie mit dem späten Geständnis überraschte, als Heidenkind kein Weihnachten zu feiern, den Konsum aus Überzeugung zu boykottieren oder von ihr aus eine Zimtallergie zu haben. Ihr wäre alles recht gewesen.

Und jetzt das.

„Puh, Weihnachten“, setzte sie erneut an, dann holte sie tief Luft und zwang sich, in Eriks Richtung zu schauen, der sich gerade von der rechten Beschleunigungsspur in den nicht mehr ganz so dichten Verkehr auf der A61 einfädelte. „Lass uns da in ein paar Tagen nochmal drüber reden“, schlug Noëlle vor. „In Ruhe und mit ein bisschen Zeit.“

Erik sah sie wieder an und grinste. Es war genau dieses Lächeln, dieses spitzbübische Jungsgrinsen, das ihr bei der ersten Begegnung schon weiche Knie beschert hatte und auch heute noch dafür sorgte, dass sie quasi sofort dahinschmolz, wenn er es aufsetzte. Was eigentlich ziemlich blöd war. Denn Noëlle konnte sowieso schon so schlecht Nein sagen, und mithilfe von Eriks entwaffnendem Lausbubencharme löste sich ihr Widerstand in der Regel binnen Sekunden in Luft auf.

Nur bei diesem einen speziellen Thema nicht. Bei Weihnachten, das wusste Noëlle mit einer Selbstsicherheit, um die sie sonst alle anderen um sich herum beneidete, würde sie hartbleiben. Man nannte das wohl Selbsterhaltungstrieb.

„Wir haben doch gerade Ruhe und noch eine gute halbe Stunde, bis wir bei meinen Eltern ankommen“, legte Erik nach. „Ist ja auch nicht mehr lange bis Weihnachten. Wir haben Anfang Dezember. Im Radio spielen sie schon Weihnachtslieder.“

Wie aufs Stichwort fingen in diesem Moment die Glocken aus Mariah Careys Horrorhit „All I want for Christmas“ an, aus den Lautsprecherboxen zu klingeln, und Erik drehte gut gelaunt am kleinen schwarzen Knöpfchen des Radios, um die Musik lauterzustellen, und wiegte den Kopf im Takt hin und her.

Noëlle spürte etwas Saures aus ihrem Magen in ihre Kehle hochsteigen. Oh, wie sie Weihnachten hasste! Dieses ganze aufgesetzte und inszenierte „Wir haben uns alle lieb“-Gehabe, das konnte sie so gut leiden wie einen Nagel im Fuß. Wobei sie der Vergleich auf sehr unangenehme Weise daran erinnerte, wer da vor etwa zweitausend Jahren geboren worden war, um fortan die Welt mit seiner beknackten Geburtstagsparty zu quälen. Empfängsnisverhütung, davon schon mal was gehört? Nur mit Mühe konnte Noëlle ein Stöhnen unterdrücken, als Mariah jaulend wie eine Seerobbe, die ihre Mutter verloren hatte, zu singen anfing, begleitet von einem Geräusch, das Noëlle an eine winterliche Schlittenfahrt erinnerte – und was ihr deswegen höchst zuwider war.

„Mit ist Weihnachten jetzt nicht sooo wichtig“, setzte Noëlle zur Untertreibung des Jahrtausends an, wobei sie Schwierigkeiten hatte, das Gejaule zu übertönen.

Erik guckte sie etwas konsterniert von der Seite an. „Was? Wieso das denn?“ Konsterniert und ein bisschen traurig. Er stellte das Radio wieder leiser. Immerhin.

„Och.“ Sie zuckte mit der Schulter und begann, an ihrem Gurt herumzuspielen. „Hat keinen bestimmten Grund.“

Was natürlich nicht stimmte. Was sogar so heftig gelogen war, dass sich Noëlle wunderte, dass nicht eine Armee himmlischer Heerscharen über sie hereinbrach und sie mit den Posaunen von Jericho das Fürchten lehrte.

Dass ihre Eltern eine gewisse „Affinität“ zum Fest der Liebe hatten, war schon aus der Wahl der Namen ihrer Kinder deutlich geworden. Es gab doch so viele Möglichkeiten, wie man sein Kind nennen konnte. Lena. Maike. Anna. Passte alles ganz hervorragend zum Familiennamen Christmann, und keine Sau hätte sich dabei was gedacht. Wie ihre Eltern aber auf die Idee gekommen waren, ihre Tochter Noëlle zu nennen, ausrechnet, war ihr bis heute ein Rätsel. Noëlle, das kam aus dem Französischen und hieß Weihnachten. Es war ein saublöder Name, den jeder sofort kommentieren musste. „Na, ist denn schon Weihnachten?“ war einer der häufigsten Kalauer, wenn sie mit vollem Namen irgendwo vorgestellt wurde, dicht gefolgt von einem gesummten „Stille Nacht, heilige Nacht“ oder der Frage, ob sie auf irgendeiner Liste mit lustigen Namen auftauchte, flankiert von Rosa Schlüpfer und Claire Grube.

Am schlimmsten war es in der Schule gewesen, im Deutschunterricht. Ihr Lehrer – einer dieser Pauker, die sich selbst unfassbar komisch fanden und ihre Epochalnoten auch von der Lautstärke der Lacher abhängig machten, die in Reaktion auf ihre miesen Altherrenwitze hin ausgeschüttet wurden – erklärte anhand von Noëlles Namen das Stilmittel der Tautologie.

„Es handelt sich dabei um gleichbedeutende Wörter derselben Wortart“, hatte er doziert, als sie die rhetorischen Figuren durchgenommen hatten. „Ihr könnt euch als Eselsbrücke natürlich den weißen Schimmel merken, aber wir haben eine Tautologie unter uns, nicht wahr, Noëlle Christmann?“

Das Brüllen ihrer Mitschüler war so laut gewesen, dass es Noëlle in den Ohren weggetan hatte. An diesem Tag hatten sie alle mündlich eine Eins bekommen. Nur Noëlle hatte nicht mitgelacht. Denn in ihrem Herzen hatte es einen kleinen Stich gegeben, und von diesem Tag an hasste sie ihren Namen noch viel mehr als die Weihnachtswut ihrer Eltern, und das wollte schon was heißen.

„Weißt du, was ich glaube?“, riss Erik sie in diesem Moment aus ihren dunklen Erinnerungen, die nach Turnbeutel und billigem Axe-Deo stanken. „Du hast einfach noch nicht richtig Weihnachten gefeiert.“

Nur mühsam konnte Noëlle ein hysterisches Auflachen unterdrücken. Im August, manchmal sogar noch während der letzten Woche in den Sommerferien, begann Jahr für Jahr das Spektakel des Grauens. Noëlles Vater öffnete die Tür zur freistehenden Garage neben dem schmucken Einfamilienhaus im gar nicht mal so malerischen Stadtteil Himmelsthür (ein Zufall, das beteuerten ihre Eltern bis heute) und damit die Büchse der Pandora. Denn anstatt sein Auto oder das seiner Frau in der Garage zu parken, verwahrte Heiner Christmann dort die wahren Schätze: mehrere Kilometer von Lichterketten, unzählige Rentierschlitten inklusive sechs langbeiniger Tierattrappen in Originalgröße, ein täuschend echter Weihnachtsmann, der sich drei Monate im Jahr vom Schornstein abseilte, Millionen und Abermillionen von Glühbirnen, blinkend, leuchtend, dimmbar – in allen Variationen und Farben, die an jedem Strauch, jedem Busch, jedem Zweiglein im Garten hingen und den Nachthimmel erleuchteten, dass die Motten nur so angeflogen kamen. Außerdem aufblasbare Riesenschneemänner, ein Gartenzaun aus illuminierten Zuckerstangen, diverse Engel, Rentiere und mechanisch winkende Weihnachtswichtel in verschiedenen Größen und Materialien, die den Vorgarten in ein Weihnachtsdorf verwandelten, das in jedem Vergnügungspark der Welt locker seinen Platz gefunden hätte.

Die Christmanns waren (bis auf ihre Tochter), die totalen Weihnachtsjunkies. Nach den vier Wochen Aufbau der Außendekoration, die spätestens Anfang September abgeschlossen sein musste, folgte die im Inneren des Hauses. Jede einzelne Gardine wurde abgehängt und durch ein Exemplar ersetzt, auf dem lachende Lebkuchenmänner und pausbäckige Putten ihr Unwesen trieben. Alle Treppenstufen, die ins Obergeschoss und in den Keller führten, wurden mit grün-rot-leuchtenden Lichtleisten geschmückt. An jeder Wand und über jeder Tür baumelten riesige gestrickte Socken, Tannenzweige, Rehe, Zwerge, Zuckerstangen oder Elchgirlanden. In jeder Ecke grüßte eine Figur aus dem weihnachtlichen Repertoire: mannshohe Nikoläuse, kindsgroße Wichtel, bis an die Decke ragende Plüschelche. Das normale weiße Geschirr musste dem kitschigen und äußerst kostbaren Sammler-Service weichen, auf dem dicke antike Weihnachtsmänner kleinen Kindern mit Schleifen im Haar Geschenke und Schaukelpferde aus ihrem großen Jutesack überreichten. Die Kaffeekanne bekam anstelle eines Deckels eine Weihnachtsmütze aus Porzellan aufgesetzt. Die Türklingel spielte nur noch „Macht hoch die Tür“. Die Fensterscheiben waren dank der weihnachtlichen Motive aus Sprühschnee nahezu undurchsichtig – es drang kein Tageslicht mehr ins Haus, was aber nicht weiter schlimm war, da es zum einen Winter war und früh dunkel wurde, und zum anderen das Haus von etwa dreißigtausend Glühbirnchen erhellt wurde. In jedem Raum stand eine kleine bis mittelgroße Nordmanntanne, geschmückt mit Weihnachtskugeln in allen Farben, Kerzen in jeder Größe und Lichterketten und Lametta, dass sich die Zweige bogen. Durch das Wohnzimmer, das über und über mit kleinen Miniaturhäuschen, Zuckerwatteständen, Kirchen, Schulen, Bahnhöfen und natürlich Tannen, so weit das Auge reichte, bestückt war, fuhr eine Eisenbahn, mit winzigen Geschenken in den kleinen Güterwaggons und winkenden Miniaturmenschen jenseits der Gleise, die sich mit Schneebällen bewarfen und mit Schlitten schneebedeckte Abhänge hinunterstürzten. Abhänge, die einmal das Fensterbrett, die Anrichte oder das TV-Board gewesen waren, jetzt aber dank weißer Watte und gleichfarbigem Dekostoff in eine Winterwunderwelt verzaubert worden waren.

Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der wusste, wie man richtig Weihnachten feierte, dann war es Noëlle Christmann.

Dennoch erwiderte sie nichts auf Eriks Vermutung. Sie hatte gerade einfach keine Lust, ihm von dem Horror zu berichten, der sich jedes Jahr in Hildesheim bei ihren Eltern abspielte. Sie wollte ihm nicht erklären, warum sie seit bald zwölf Jahren nicht mehr daheim feierte. Mit neunzehn war sie das letzte Mal über die Weihnachtsfeiertage in Himmelsthür gewesen, im Jahr darauf, nach dem Abi, im Auslandsjahr in Australien. Und wie hatte es ihr da gefallen! Unter Palmen hatte sie am Strand gelegen und dem Weihnachtsmann gutgelaunt den sinnbildlichen Mittelfinger gezeigt. Die Aussies feierten zwar das Fest der Liebe, aber eher mit einem Barbeque am Strand und jeder Menge Bier aus eisgekühlten Flaschen. Und da der Schnee, die Nikolausmützen, die Christstollen und die Lebkuchen fehlten, war Weihnachten in Downunder etwas vollkommen anderes für Noëlle gewesen – eine Erfahrung, die sie fortan so oft wie möglich wiederholte.

In den letzten Jahren hatte sie immer eine Ausrede gefunden, warum sie über die Feiertage nicht nach Hause kommen konnte. Entweder war es ein Tauchurlaub in Thailand, eine Prüfung, für die sie während ihres Studiums lernen musste, eine Freundin, die frisch getrennt an Weihnachten allein war und ihren Beistand brauchte, oder ein besonders wichtiger Auftrag, den sie für die Firma bearbeiten musste. In manchen Jahren lag Weihnachten so ungünstig, dass Noëlle sich gar keine Ausrede einfallen lassen musste, aber mittlerweile brauchte sie das sowieso nicht mehr. Denn obwohl ihre Eltern sie Jahr für Jahr immer wieder einluden, hatten sie wohl verstanden, dass es besser war, wenn sie sich auf ihren Sohn, seine weihnachtliche Frau und deren kleine Familie konzentrierten, die die Geburt Jesu mit einer ähnlichen Begeisterung feierten.

Nikolaus und Natalie (und Noëlle war sich sicher, ihr Bruder hatte sie nur des Namens wegen geheiratet) fanden, dass es nichts Besseres gab, als mit den Zwillingen Kaspar und Melchior und dem Nachzüglerkind Balthasar nach Himmelsthür zu fahren und dort eine Woche in 2.000.000 Watt zu verbringen.

Die Vorstellung, mittendrin zu sitzen, wenn die Zwillinge um den Baum rasten, die elektrische Eisenbahn entgleisen ließen und sich anschließend um die gefüllten Weihnachtssocken prügelten, während Noëlles Mutter in Dauerschleife das Weihnachtsoratorium von Bach laufen ließ und ihr Vater mit dem kleinsten Enkel die dreiunddreißigste Krippe im Haus einrichtete – nein. Ein ganz klares Nein, das sogar noch verdoppelt wurde, wenn sie sich ausmalte, wie es wäre, wenn Erik mitkäme. Erik, dem ihre verrückte Familie garantiert eines der vielen Nikolauskostüme aufzwingen würden. Allein weil er so groß war. Und dann noch der Bart …

Gott sei Dank hatte Erik sie nicht gefragt, ob sie Weihnachten in Himmelsthür feiern wollten. Und auch nicht, ob sie es mit ihm und seinen Eltern verbringen wollte. Es ging heute nur um ein erstes Kennenlernen, das war alles. Keiner hatte Weihnachten in diesem Zusammenhang auch nur erwähnt. Erik hatte ihr noch nicht einmal einen Adventskalender gebastelt, und das taten verliebte Männer ja gern, wenn auch nur im ersten Jahr. Ihr Freund hatte es nicht getan, und jetzt war schon der 3. Dezember, die Chancen standen also gut, dass sie mit keinen bösen Überraschungen mehr rechnen musste.

Na ja. Noëlle lernte heute ja seine Verwandtschaft kennen … auch so eine Wundertüte, wo man grundsätzlich alles erwarten musste. Sie wusste immerhin, dass Georg und Monika Flock nette Leute waren. Einerseits, weil sie einen wunderbaren Sohn hatten, der nicht nur über gute Manieren verfügte, sondern auch eine äußerst charmante und mitreißende Art hatte. Andererseits, weil sie schon einmal miteinander telefoniert hatten. Im Auto über die Freisprechanlage, als Erik und Noëlle nach Darmstadt ins Jugendstilbad gefahren waren, an einem Sonntag. Während dieses Gesprächs, in dem man sich wegen der schlechten Netzabdeckung im Hunsrück hatte anbrüllen müssen, hatten Eriks Eltern sie eingeladen, sie doch mal in Krummenau besuchen zu kommen. Natürlich hatte Noëlle da zugesagt. Was hätte sie sonst tun sollen? In Anwesenheit aller Beteiligten?

Und jetzt also Eriks Frage, ob sie Weihnachten zusammen feiern wollten.

Egal. Sie hatte ein ganzes Wochenende Zeit, sich die perfekte Ausrede einfallen zu lassen, warum sie am 24. Dezember dringende Verpflichtungen hatte, denen sie unbedingt nachgehen musste. Sie könnte ihm natürlich erzählen, dass sie zu ihren Eltern fahre, und sich anschließend vier Tage in der kleinen Zweizimmerwohnung in Frankfurt-Sachsenhausen einschließen. Sie hatte mal von einer Studentin aus Holland gelesen, die eine zweimonatige Asienreise auf diese Art inszeniert hatte, komplett mit Fototapete vom Sandstrand, Solariumsbesuchen und angeblichen Tauchfotos, die sie im Freibad von Rotterdam gemacht und anschließend am Rechner nachbearbeitet hatte. Keinem war aufgefallen, dass die junge Frau nicht wirklich weggewesen war, nicht einmal ihren Eltern und besten Freunden. Und wenn der Holländerin dieses Kunststück mit zwei Monaten Asien gelungen war, dürften vier Tage Niedersachsen doch kein Problem sein, oder?

Was aber, wenn Erik sich einfach selbst einlud? Dann würde Noëlle noch eine weitere Lüge aus dem Ärmel zaubern müssen. Eine Krankheit. Ein gebrochenes Bein. Oder besser: zwei gebrochene Beine. Doch die würden eine lange Reha nach sich ziehen. Noëlle überlegte. War sie bereit, einen solchen Aufwand zu betreiben, nur um …

Ja!, lautete die Antwort. Ja, ja und nochmal ja.

Dennoch war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, ihren Freund, der sich immer noch recht frisch anfühlte – wie eine neue Haarfarbe, die man im Vorbeigehen im Spiegel an sich erblickte und die einen auch nach Wochen überraschte – derart anzuflunkern.

Also doch lieber bei der Wahrheit bleiben? Nein. Dazu war Noëlle noch nicht bereit. Schon mit anderen vor ihm, Partnern wie Freundinnen, hatte sie diese Unterhaltung geführt, und in den seltensten Fällen war die zu ihrer Zufriedenheit ausgegangen. Denn entweder fanden die, denen Noëlle von ihrem Trauma berichtete, die ganze Sache zum Schreien komisch und waren nicht in der Lage, auch nur einen Funken Mitgefühl für sie zu zeigen. Oder Noëlle musste sich eine ellenlange Gardinenpredigt anhören, dass man mit zweiunddreißig doch langsam mal genug Abstand zum eigenen Elternhaus bekommen haben sollte, um über derlei Ärgernisse hinwegzusehen.

Der Denkfehler war: Weihnachten bei den Christmanns war kein Ärgernis. Es war die Apokalypse.

Wieder betrachtete sie Erik verstohlen von der Seite. Dieser Bär von einem Mann … Sie mochte ihn wirklich gern leiden, mittlerweile war sie sogar sicher, dass er der Richtige war. Am Anfang hatte sie sich gesträubt, denn er hatte sie mit seiner doch recht überschwänglichen Art gerade zu Beginn der Beziehung von Zeit zu Zeit überfahren. Schon am zweiten Wochenende hatte er sie romantisch ausgeführt, nach vier Wochen war der erste Kurzurlaub in einem Wellness-Hotel im Odenwald gekommen. Für Noëlle, die eigentlich lieber im Standgas fuhr, war das schon ein ziemlich rasantes Tempo gewesen. Aber ihre Freundin Ann-Kristin hatte gesagt: „Süße, du schnallst dich jetzt mal an, und dann lässt du dich von Erik einfach rumkutschieren. Kann ja nicht sein, dass du bis zum Ende deines Lebens nur Testrunden auf dem Nürburgring drehst.“ Und Noëlle hatte beschlossen, sich auf die Beziehung und Eriks Bleifuß auf dem Gas einzulassen.

Und wo hat es dich hingebracht?, fragte sie sich nun und unterdrückte ein Seufzen, als sie aus dem Augenwinkel das Schild mit der Aufschrift „Rheinböllen“ wahrnahm. Erik setzte erneut den Blinker und fuhr auf die Bundesstraße ab.

Vielleicht konnte sie ihn ja doch noch zu einer Fernreise überreden. Neulich hatte er ihr erzählt, dass er gern mal nach Vegas würde. Wäre das nicht ein toller Aufhänger? Wobei. Am Ende würde er sie dort heiraten. Einfach so, schwuppdiwupp, wie es seine Art war. Nicht lang fackeln, einfach machen. Vielleicht war Vegas doch keine so gute Idee. Dann Südafrika? Da hatte Noëlle eigentlich dieses Jahr hingewollt. Bis Erik gekommen war und alles durcheinander gebracht hatte.

Ach, mir wird schon was einfallen, beruhigte sie sich in Gedanken.

Wieder wanderte ihr Blick zu Erik, der mit dem Finger den Rhythmus des Liedes aufs Lenkrad klopfte. Die blonden Haare mit den bereits etwas silbernen Schläfen standen ihm wie immer wild vom Kopf ab. Sein Bart war voll und schön, wie bei einem echten Wikinger.

In diesem Moment drehte Erik den Kopf in ihre Richtung und lächelte. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und legte sie auf ihre. Sofort spürte sie, wie die Wärme, die von seiner Haut ausstrahlte, auf ihre kalten Finger überging. Erik ließ seine Hand da, wo sie war, selbst als er wieder nach vorn sah und leise anfing, das Lied mitzupfeifen, das im Radio lief. Kein Weihnachtshit, hurra.

Noëlle seufzte und lehnte sich in ihren Sitz zurück. Es würde alles gut werden. Sie würde Eriks Eltern kennenlernen, und sie würde sie mögen. Weihnachten würde sie irgendwie abwenden können. Und mit Erik würde es genauso toll weitergehen, wie es in den vergangenen fünf Monaten angefangen hatte.

Ganz bestimmt.