Leseprobe – Das Stranddistelhaus

Köln, 2. März 2019

Rieke steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn nach links und hielt verblüfft inne. Die Haustür öffnete sich nicht. Stimmte etwas mit ihrem Schlüssel nicht? Sie nahm den Bund prüfend in die Hand und betrachtete die silbernen Zacken. Merkwürdig. Gestern Abend hatte der Schlüssel noch funktioniert. Oder hatte Gustav von innen abgeschlossen? Das war ja gar nicht seine Art.

Sie stellte den Handgepäckstrolley auf dem Absatz vor der Haustür ab und warf einen Blick in die Hofeinfahrt des freistehenden Einfamilienhauses. Gustavs BMW stand im Carport. Er musste zu Hause sein – ihr Mann ging niemals zu Fuß, und in die Kölner Verkehrsbetriebe würde man ihn nicht unter Androhung von Gewalt bekommen.

Rieke hatte damals, vor beinahe zwanzig Jahren, als sie die Immobilienangebote monatelang durchpflügt hatten, eigentlich nicht aus der City rausgewollt. Müngersdorf klang wie das andere Ende von Deutschland. Aber wer in Köln ein Eigenheim mit Garten haben wollte, musste Kompromisse eingehen. Irgendwann hatte die Maklerin das Exposé der hübschen, zweigeschossigen Villa mit riesigem begrüntem Grundstück vorgelegt. „Scheidungsmasse“, hatte sie gesagt und gelacht. „Ihr Glück!“ Rieke hatte damals mitgelacht und die leise Stimme in ihrem Ohr ignoriert, die gefragt hatte, ob das wohl ein schlechtes Omen sei.

Stattdessen schlugen sie zu. Es war das Jahr 2000, seit einiger Zeit standen auf allen Preisschildern zwei Währungen, und niemand konnte sich vorstellen, dass eine dreiviertel Million D-Mark irgendwann einmal nur noch die Hälfte in Euro wert sein sollte. 750.000 waren ein super Angebot, fand Gustav, und Rieke, die keine Ahnung von Immobilienpreisen hatte und sich auch nicht sonderlich für die Finanzierung der Villa interessierte, nickte die Entscheidung ab. Sie war die Suche müde geworden. So lange suchten sie schon. Gustav und sie hatten angefangen, sich umzusehen, als Rieke bemerkte, dass sie schwanger war. Und seit zwei Jahren trug sie nun ihren Sohn jeden Tag mehrmals die steile Altbautreppe zu ihrer Mietwohnung in Nippes hoch. Selbst wenn Rieke eigentlich nicht in den Speckgürtel ziehen wollte, die Schlepperei des Kindes und die andauernde Suche nach einer passenden und bezahlbaren Immobilie hatten sie zermürbt.

Also zogen sie nach Müngersdorf. Kurz darauf richtete sich Mathilde, das Au-pair-Mädchen aus Frankreich, in der kleinen Anliegerwohnung im Souterrain ein und kümmerte sich fortan um Lukas, damit Rieke wieder arbeiten gehen konnte. Nicht, weil sie es musste, denn Geld war genug da. Sondern weil ihr das ewige Alleinsein mit ihrem Sohn, das Wickeln, Füttern, Spazierengehen und Bespaßen, langsam, aber sicher, auf die Nerven ging. Sie liebte ihr Kind, aber an das Muttersein würde sie sich nicht gewöhnen.

Das alles war lange her. Mittlerweile war Rieke beinahe so alt wie ihre eigene Mutter, als diese Oma geworden war. In drei Jahren würde sie ihren Fünfzigsten feiern, groß und mit allem Pipapo. Vielleicht würde sie zu diesem Anlass auch Mathilde einladen. Die hatte in Avignon inzwischen ihre eigene Familie gegründet und schrieb seitdem Jahr für Jahr Weihnachtskarten, auf denen die Kinder zahlreicher und die Haare auf dem Kopf ihres Mannes weniger wurden. Riekes Sohn Lukas war nach Kiel gezogen und hatte angefangen, Meeresbiologie zu studieren. Er schrieb keine Weihnachtskarten, aber das war von einem Einundzwanzigjährigen auch nicht zu erwarten.

Rieke versuchte es ein zweites Mal mit ihrem Schlüssel, doch erneut konnte sie die Tür nicht öffnen. Genervt drückte sie auf den Klingelknopf neben dem Namensschild. Im Inneren des Hauses ertönte die Glocke. Rieke wartete einige Augenblicke, dann drückte sie noch einmal auf die Klingel. Vielleicht war Gustav gerade unter der Dusche? Am Samstagmorgen verbrachte er immer eine Stunde auf dem Rudergerät. Wie viel Uhr war es eigentlich?

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display. Halb elf. Trotzdem war der Himmel in dieses fahle Blau getaucht, als hätte sich die Sonne noch nicht entschieden, ob sie heute aufgehen wolle. Im Stockdunkeln hatte Rieke heute früh um fünf Uhr das Haus verlassen, und eigentlich wäre sie vor anderthalb Stunden in Barcelona gelandet. Die Demonstranten vor der Handgepäckskontrolle hatten ihre Pläne jedoch durchkreuzt.

Natürlich waren Rieke die schwarz gekleideten Menschen aufgefallen, die vor der Sicherheitsschleuse herumstanden. Sie hatte sich noch gewundert, mit den Jahren und den andauernd irgendwo auf der Welt stattfindenden Terroranschlägen wurde man ja misstrauischer, wenn man etwas außerhalb der Reihe sah, vor allem auf öffentlichen Plätzen oder an Verkehrsknotenpunkten. Da sich unter den wartenden Passagieren aber auch einige Junggesellenabschiede und Kegelklubausfahrten befunden hatten, hatte sie den Gedanken schnell verworfen. Bis ein Mann in einem dunklen Kapuzenpulli plötzlich die Faust in die Luft riss und brüllte: „Was wollen wir?“ Und die schwarz Gekleideten schrien: „Klimagerechtigkeit!“

Rieke zuckte vor Schreck zusammen und umklammerte ihren Trolley. Dann beobachtete sie mit Schrecken, wie die Demonstranten sich beieinander unterhakten und eine Art lebende Kette vor der Sicherheitsschleuse bildeten. Weder den Mitarbeitern der Flugsicherheit noch der nach einer halben Stunde heranrückenden Polizei war es gelungen, die Menschenkette an einer Stelle aufzulösen, sodass die immer ungeduldiger wartenden Fluggäste durch die Schleuse gehen konnten. Nach einer weiteren Stunde, vielen wütenden Beschimpfungen, lautstarken Auseinandersetzungen und Versuchen, die Demonstranten zum Aufgeben zu überreden, war Riekes Flieger weggewesen.

Sie wählte Gustavs Nummer aus den favorisierten Kontakten aus und wollte ihn gerade anrufen, als sie eine Bewegung hinter der Milchglasscheibe der Haustür bemerkte. Der Riegel des Türschlosses wurde zur Seite geschoben, und die Tür ging auf.

„Marieke? Was machst du denn …“

Rieke starrte die dunkelhaarige Frau an, die ihr geöffnet hatte. Es dauerte eine Sekunde, ehe sie Natalie erkannte, obwohl sie sich doch jeden Tag sahen. Allerdings im Büro – und nicht an ihrer eigenen Haustür.

„Ich habe meinen Flug verpasst.“ Riekes Blick wanderte am schlanken Körper ihrer Assistentin hinunter. Sie konnte das, was sie sah, in keinen logischen Zusammenhang bringen. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Hatte Natalie irgendwas vergessen? Aber wieso in Müngersdorf und nicht im Büro? Und waren das Riekes Pantoffeln?

„Was machst du hier?“

„Ich …“ Natalie öffnete die Tür ein kleines Stück. „Ich wollte sowieso gerade gehen.“ Sie wandte sich hastig ab und griff nach ihrem Mantel an der Garderobe, schlang sich den Schal um den Hals und schnappte sich ihren Autoschlüssel, der auf der Kommode im Eingangsbereich lag. Beinahe, als wäre sie hier zuhause.

„Die Pantoffeln.“ Rieke nickte in Richtung ihrer Hausschuhe. Sie wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Warum war Natalie an einem Samstagmorgen bei ihr daheim? Wenn sie selbst nicht zuhause, sondern eigentlich in Spanien war?

Ein Wochenende nur für sich, das hatte Rieke sich am Ende des sehr anstrengenden letzten Jahres gewünscht, und Gustav hatte ihr vier Tage in Barcelona geschenkt, mit allem Drum und Dran. Exklusives Hotel mit riesigem Spa-Bereich, Massagen, eine private Stadtführung mit einem emeritierten Kunst-Professor, der ihr die Symbolik der Sagrada Familia erklärte, abends eine Flamenco-Vorführung. Alles, was das Klischee bediente. Es war Gustavs Weihnachtsgeschenk an seine Frau gewesen. Rieke waren am Heiligen Abend vor Verblüffung fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Normalerweise marschierte Gustav am 23. Dezember zum Juwelier seines Vertrauens, ließ sich ein paar der teuersten Stücke präsentieren, zeigte wahllos auf eines davon und kaufte es. Glücklicherweise wusste der Juwelier, was Rieke gefiel, denn irgendwann in der Adventszeit schaute sie bei ihm vorbei und suchte sich drei Schmuckstücke aus. Der Juwelier zeigte eben diese Auswahl Gustav, der sich wiederum für einen Mann mit gutem Geschmack hielt, denn noch nie hatte seine Frau ein Weihnachtsgeschenk nach den Feiertagen umgetauscht. Win-Win für alle. Und so fiel der Barcelona-Trip mächtig aus der Reihe. Auch Sohn Lukas hatte überrascht mit den Schultern gezuckt. Doch dann hatte Rieke sich einfach gefreut. Auf den Kurzurlaub allein – und über die Tatsache, dass Gustav ihr offenbar zugehört hatte.

Bis jetzt. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher, wem ihr Mann mit Riekes Kurztrip nach Barcelona die größere Freude gemacht hatte: ihr oder sich selbst.

Natalie war mittlerweile in ihre Stiefeletten und den Mantel geschlüpft und hatte Riekes Pantoffeln ordentlich nebeneinander unter der Garderobe abgestellt. Sie schob sich an Rieke vorbei, murmelte: „Bis Montag“, und war verschwunden.

Mit wachsendem Zweifel sah Rieke ihr nach. Was war hier los? Sie betrat den Eingangsbereich ihres Hauses, stellte den Handgepäckstrolley in die Ecke und lief in Mantel und Schuhen den schmalen Flur entlang, der sie in den großen Wohnraum mit offener Küche, schicker Designer-Sitzgruppe und dem freistehenden Kamin führte, in dem ein Feuer knisterte.

„Na endlich! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Waren das die Zeugen Jehovas?“

Riekes Mann saß auf dem Sofa und wandte ihr den Rücken zu. Auf dem niedrigen Tisch vor der Sitzgruppe stand ein Sektkübel, aus dem der Hals einer Champagnerflasche ragte. Daneben erkannte Rieke zwei schmale Sektflöten, in denen die goldene Flüssigkeit perlte.

Ein Gedanke schob sich in Riekes Bewusstsein. Er erklang leise, gedämpft, dann wurde er lauter, klarer. Als hätte Rieke zuerst die falsche Frequenz eingestellt und deswegen am Regler gespielt. Jetzt wurde er verständlich.

Gustav betrügt mich. Mit meiner Assistentin.

Sie spürte ein Ziehen in der Brust, als die Gewissheit mit aller Macht zuschlug. Dann fiel ihr linkes Ohr zu. Von einer Sekunde auf die andere hatte sie das Gefühl, jemand hätte ihr Watte in den Gehörgang gestopft.

Ihr Mann drehte sich um. Als er Rieke erblickte, erstarrte er. Nach einigen Augenblicken sagte er ruhig: „Scheiße“, beugte sich nach vorn, griff nach einer der Sektflöten und trank sie in einem Zug leer.