Leseprobe – Abschied ohne Tränen

Ich schlage die Augen auf und weiß nicht, wo ich bin. Das Erste, was ich bewusst wahrnehme, ist der Geruch. Er ist anders als normalerweise, sauberer, klinischer. Es riecht nach Reinigungsmitteln und …

Krankheit. Tod. In dem Augenblick, in dem ich begreife, woran mich der Geruch erinnert, der in meine Nase steigt, kommt alles wieder. Der Unfall. Meine Mutter in der Not-OP. Sie spürt ihre Arme und ihre Beine nicht mehr. Die Erinnerungen an letzte Nacht holen mich schmerzhaft in die Realität zurück.

In den kommenden Monaten werde ich diesen Moment noch oft erleben. Diese wenigen Sekunden der Unschuld, direkt nach dem Aufwachen, diese seltenen kostenbaren Gelegenheiten, in denen ich vergesse, was passiert ist, und mich erst wieder daran erinnere, wenn ich mich orientiert habe.

Mit einem Mal ist dann alles wieder da. Mir wird schlecht, ich traue mich nicht aufzustehen. Obwohl ich weiß, wie naiv mein Wunsch ist, hoffe ich, dass alles gut ist, wenn ich einfach liegen bleibe und so tue, als wäre es nicht geschehen.

Ist es aber nicht.

Vor der Tür höre ich Stimmen und die Gummirollen eines Krankenhausbettes, die über den Boden schrammen. Also ist es wahr. Ich bin in Chemnitz, im Krankenhaus. Irgendwie bin ich also doch hier angekommen …

Als ich in Wittenberge endlich das Gleis gefunden habe, von dem aus in einer halben Stunde der Zug nach Berlin zurückfahren soll, fällt die Anspannung der letzten Stunden zum ersten Mal von mir ab. Ich erleide einen heftigen Heulkrampf. Versuche ruhig zu bleiben, fange mich, indem ich das tue, was ich am besten kann: organisieren.

Mein Mantra ist: Fahr nach Chemnitz, noch heute Nacht. Irgendwie.

Die Zugfahrt dauert eine Ewigkeit und fordert mein ohnehin schon angeschlagenes Nervenkostüm sehr heraus. Dieses Nichtstun, zu dem ich verdonnert bin, das Sitzen und Hoffen, dass es bald vorbei ist … die Warterei, die Ungewissheit sind zermürbend.

Ich telefoniere mit Frank, das hilft. Ich rufe auch Julian an, sage ihm, dass ich nicht kommen werde, zu ihm und zur Regatta. Ich erzähle, was passiert ist, plane meine weitere Reise. Das alles beruhigt mich. Gibt mir Sicherheit. Und das ist es auch, was mich die nächsten Stunden und Tage durchstehen lässt.

Einen Anruf allerdings schiebe ich hinaus, bis ganz zuletzt, bis es fast nicht mehr geht. Es ist schon fast elf, als ich in Tschechien anrufe.

Oma klingt verschlafen, als sie das Telefon abnimmt, aber sie ist innerhalb von Sekunden hellwach.

Wie sagt man seiner geliebten Großmutter, dass ihre einzige Tochter einen schweren Autounfall hatte? Dass sie ihre Beine und Arme nicht mehr gespürt hat? Dass sie nicht unbeschadet aus der Sache rauskommt?

Ich weiß nicht, wie ich es anstelle. Doch verwundert stelle ich fest, dass ich innerlich ganz ruhig werde, als ich Oma in behutsamen Worten zu sagen versuche, was geschehen ist.

Sie versteht es nicht. Natürlich. Es ist auch nichts, was sich verstehen lässt. Ich verspreche, sie auf dem Laufenden zu halten.

Es ist fast ein Uhr nachts, als ich in Chemnitz ankomme. Mit dem Taxi lasse ich mich vom Bahnhof zum Krankenhaus fahren. Dort treffe ich einen sehr jungen Arzt, der mir mit unsicheren Worten alles zu erklären versucht. Ich weiß nicht, für wen von uns beiden es schlimmer ist. Für ihn, den nicht nur das unglückliche Los der Nachtschicht getroffen hat, sondern dem auch die schreckliche Aufgabe zuteilwird, die Hiobsbotschaft zu überbringen. Der einzigen Tochter, ausgerechnet.

Seine Stimme ist leise, er traut sich kaum mir zu sagen, dass das Gefühl in Armen und Beinen bei meiner Mutter auch nach der OP nicht wiedergekommen sei. Sie ist seit dem Unfall vom Hals abwärts gelähmt – ob sich das noch ändern wird, kann der Arzt nicht sagen. Es liege eine starke Quetschung des Rückenmarks auf Höhe der Halswirbelsäule vor, da müsse man abwarten und dem Ganzen Zeit geben.

Im Zug, auf meinem langen Irrweg durch Ostdeutschland, habe ich überlegt, wie ich auf die Nachricht reagieren würde, dass sie gestorben wäre. Beim Unfall. Während der Operation. Wäre der Tod die bessere Alternative? Der einfachere Weg? Keine Lähmung, keine Schmerzen, keine Reha …

Und dann wieder die Erkenntnis: Aber nein, natürlich ist der Tod keine Alternative. Das ist er niemals!

„Weiß meine Mutter, wie es …“ Mir fehlen die Worte. „Wie es um sie steht?“

Der junge Arzt nickt. „Ja, sie weiß es. Wollen Sie zu ihr?“

Ich habe Angst vor dieser Begegnung. Wie wird es sein? Wird sie noch sie sein? Wie werde ich auf Mama reagieren, im Krankenbett, unfähig, sich zu rühren, geschockt, verwirrt, verzweifelt womöglich? Kann ich stark genug für uns beide sein?

Wir gehen einen langen Gang entlang und betreten das Zimmer.

Meine Mutter liegt da, müde, erschöpft, entsetzt von der Nachricht. Sie weiß, wie es um sie steht. Sie wusste es vom ersten Moment an. Nur Sekunden nach dem Aufprall auf das andere Auto konnte sie ihren Körper nicht mehr spüren. Da schon hat sie es ahnen müssen.

„Mama.“

Ich trete an ihr Bett heran. Sie dreht den Kopf in meine Richtung. Am liebsten würde ich in Tränen ausbrechen. Wie sie da so vor mir liegt, mit den Verbänden überall und an den Maschinen hängend. Was geschieht mit uns gerade? Warum passiert uns das? Aber ich kann nicht mehr weinen, so fertig bin ich.

Ich versuche, meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, als ich frage: „Was ist passiert?“

„Ich bin in ein anderes Auto reingefahren“, sagte sie.

Ihre Stimme zittert nicht dabei, sie wirkt ganz gefasst. Das muss noch der Schock sein.

„Der Wagen stand quer auf der Autobahn, er hatte einen Anhänger. Ich habe gebremst und versucht auszuweichen, aber es hat nicht gereicht. Dann habe ich plötzlich meine Arme und Beine nicht mehr gespürt. Und meinen Kopf konnte ich auch nicht mehr heben.“

Sie versucht, an sich hinunterzusehen, aber ihr Hals wird von einer dicken Krause stabilisiert.

„Es sind viele Leute gekommen, Polizei, Feuerwehr, ein Krankenwagen, aber alle sind nur herumgelaufen, keiner konnte mir helfen. Die Tür klemmte, sie kriegten sie nicht auf. Und ich …“

Jetzt erstmals hält sie inne, scheint einen Moment durchzuatmen, Luft zu holen für das, was als Nächstes kommt.

„Und ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich bin immer weiter zusammengesackt, habe fast nichts mehr gesehen, weil mein Kopf auf dem Lenkrad hing. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie die blöde Säule weggeschnitten haben, dann konnte ich raus.“

Das hat mir auch der junge Arzt erzählt. Dass es eine Weile dauerte, bis sie die B-Säule entfernt hatten, um meine Mutter, ohne ihre Wirbelsäule noch weiter zu verletzen, aus dem Wagen befördern zu können.

Kraftlos lasse ich mich neben ihrem Bett auf den Stuhl fallen. Mein Blick gleitet über Mamas geschunden Körper.

„Und …“, setze ich an. Ich möchte etwas sagen, um die Stille zu brechen, aber ich habe Angst vor meinen eigenen Worten. „… und du spürst deine Beine nicht mehr?“

„Nein“, schluchzt meine Mutter. „Die Arme auch nicht!“

Ich wende mich dem Arzt zu, der im Hintergrund steht und bislang nichts gesagt hat. „Das wird doch wieder, oder? Die Operation verlief doch gut?“

Er atmet sehr tief ein, bevor er spricht. Beinahe scheint es so, als müsste er sich zwingen zu antworten. „Wir konnten die gebrochene Stelle an der Halswirbelsäule stabilisieren. Aber leider können wir nichts Genaueres sagen. Wir müssen abwarten.“

„Oh Gott, Mama“, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. „Lass uns morgen weiterreden. Jetzt brauchst du erst einmal Schlaf.“

Und ich auch. Ich bin total am Ende.

Die Schwestern haben mir ein Zimmer auf demselben Gang organisiert, auf dem meine Mutter liegt. Ich telefoniere mit Frank, und da endlich kommen wieder die Tränen. Er versucht, Trost zu spenden, aber er ist genauso geschockt wie ich.

Es war furchtbar, meine Mutter so zu sehen. Der ganze Tag war einfach nur schrecklich. Nun will ich bloß noch schlafen, ich bin so unendlich müde. Aber ich kriege kein Auge zu, bin mit einem Mal hellwach. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Und ständig geistert mir dieser Satz durch den Kopf, den sie gesagt hat, kurz bevor ich gegangen bin: „Rollstuhl ist keine Option. Das weißt du.“

Was sollte das bedeuten? Würde sie lieber sterben wollen?

Das war gestern am späten Abend. Jetzt liege ich in dem viel zu großen Krankenzimmer, in dem ich untergebracht worden bin. Obwohl der Raum riesig ist, drohen mich die kahlen weißen Wände zu erdrücken. Aber immer noch besser hier als da draußen, denke ich mir. Auf dem Flur, wo die Intensivpatienten zu ihren Operationen gerollt werden. Ich höre das Quietschen der Gummisohlen auf dem Linoleumboden und fühle mich wie im Wartezimmer zur Hölle.

Mein Kreislauf beim Aufstehen ist im Keller. Der gestrige Tag hat mir mehr zugesetzt, als ich gedacht hätte. Habe ich gestern überhaupt irgendwas gegessen?

Ich dusche, putze die Zähne, aber alles in Zeitlupe. Und ich zögere es hinaus, das Zimmer zu verlassen und der Wirklichkeit zu begegnen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn ich mit all dem gleich konfrontiert werde. Dennoch schließe ich die Augen, hole tief Luft und verlasse den Raum.

Ich klingle an der Tür zur Intensivstation. Eine Schwester kommt.

„Guten Morgen, Frau Gräfe“, begrüßt sie mich mit einem Gesicht, in dem ich professionelle Zurückhaltung erkennen kann. „Gerade ist noch Visite. Wollen Sie warten? Sie sehen aus, als hätten Sie keine ruhige Nacht gehabt. Wie wäre es mit einem kleinen Frühstück?“

Sie legt eine Hand auf meinen Rücken, schiebt mich vorwärts, zurück zu meinem Zimmer. Dort setze ich mich auf einen der Besucherstühle und stopfe kurz darauf das Frühstück in mich hinein, das sie mir auf einem Tablett gebracht hat. Ich schmecke nichts. Ich rieche nichts. Ich bin wie betäubt. Wie durch Watte dringen die Geräusche von der Station zu mir durch. Wie Watte schmeckt auch das Brötchen, das ich in kleine Fetzen reiße und mir in den Mund schiebe.

Mein Handy klingelt. Es ist meine Großmutter, sie macht sich Sorgen. Ich versuche ruhig zu sein, ihr die Situation so schonend wie möglich, aber dennoch ehrlich, zu vermitteln.

„Mama kann ihre Arme und Beine zurzeit nicht bewegen.“

Von Lähmung spreche ich bewusst nicht, da es in meinen Ohren etwas Endgültiges hat. Außerdem: Gelähmt sind andere, aber nicht meine Mutter. Auch sie hasst diesen Begriff und wird auch später nicht wollen, dass er im Zusammenhang mit ihr verwendet wird.